Das Mittelalter ist für viele das dunkle, mystische Zeitalter. Die Aufklärung ließ noch mehrere Jahrhunderte auf sich warten; entsprechend schafften sich Esoterik, Christentum und weitere Glaubensrichtungen ihre Räume. Also könnte man mutmaßen, dass die Astrologie im Mittelalter ebenfalls ihre Blütezeit erlebte. Grund genug, für das Blog von mittelalterkleidung.de einmal bei einer Astrologin nachzufragen, ob dem auch tatsächlich der Fall war...
Das Mittelalter gilt ja gemeinhin als das mystische Zeitalter.
Dann hat im Mittelalter die Astrologie bestimmt eine große Rolle
gespielt, oder?
Nein, das stimmt ganz und gar nicht. Im frühen Mittelalter hatte man mit
Astrologie so gar nichts am Hut. In Rom wurden in dieser Zeit sogar
Astrologen des Landes vertrieben. Der Einfluss der Astrologie begann
erst etwa ab 800 n. Chr. zu steigen,
als die Araber nach Europa kamen. Wie man ja beispielsweise auch in „Der
Medicus“ von Noah Gordon nachlesen kann, kamen aus dem arabischen Raum
vielfältige Innovationen – etwa aus der Medizin und brachten auch die
beiden Disziplinen Astronomie und Astrologie, die damals noch gut
gemeinsam wirken konnten, mit nach Europa. Zu Zeiten des sagenumwobenen Harun
ar-Raschid, des Kalifen von Bagdad, der immer wieder in den Geschichten
von 1.001 Nacht auftaucht, war Bagdad das Zentrum der Welt.
Ganz langsam hielt die
Astrologie Einzug und fand ihren Platz, insbesondere in gebildeten
Kreisen. Adel, Klerus und Kirchenvertreter nutzten die Astrologie und
fanden nichts Schlimmes daran. Das lässt sich beispielsweise sehr gut
daran erkennen, dass einige gotische Kathedralen mit astrologischen
Symbolen gestaltet sind – etwa die berühmte Kathedrale Notre Dame de
Chartres. Ein Kirchenfenster von Chartres ist mit den Tierkreiszeichen ausgestattet. Christentum und Astrologie wirkten nebeneinander und aufeinander ein.
Die Astrologie gewann immer mehr an Bedeutung. Man erstellte
Geburtshoroskope berühmter Leute, weil man der Meinung war, das
Schicksal eines Landes sei mit dem Horoskop des Machthabers verknüpft.
Man betrieb Wetterastrologie, man betrieb Mundanastrologie (= Anm.:
Fachbegriff für politische Astrologie).
Aber wie gesagt: Eigentlich war das Mittelalter noch nicht die hohe Zeit der Astrologie…
Wann erlebte die Astrologie denn dann ihre Blütezeit?
Im Zeitalter der Renaissance, das etwa von 1450 bis 1600 reichte. Die
Renaissance wird ja mit der Wiedergeburt der Antike verbunden; in genau
gleichem, exponentiellem Maße gewann die Astrologie an Bedeutung – in
allen Lebensbereichen, bei allen Bevölkerungsschichten. Damals kamen die
Almanache, die Jahresprognosen, ganz groß in Mode. Da interessierten
natürlich auch die astrologischen Jahresvorschauen. Jeder, der etwas auf
sich hielt, hatte damals einen astrologischen Berater. Die Astrologie
hielt in alle gesellschaftlichen Bereiche Einzug und fand auch in Kunst
und Kultur ihre Adaption: So kreierte Albrecht Dürer damals sein
berühmtes Porträt des Astrologen.
Astrologie wurde auch zu einer anerkannten wissenschaftlichen Disziplin,
die an verschiedenen Unis selbstverständlich neben Jurisprudenz, Latein
und Griechisch gelehrt wurde. Sogar im Vatikan gab es um 1517, als
Papst Leo X. der Heilige Vater war, eine astrologische Fakultät.
Rathäuser, Klöster und weitere Bauten mit astrologischen Symbolen sind
Zeitzeugen, wie selbstverständlich Astrologie geworden war. Das zeigt
sich auch daran, dass die Astrologie für politische Zwecke ge- und missbraucht
wurde. Über Martin Luther etwa kursierten mehrere Geburtshoroskope –
ein Horoskop sagte aus, er sei ein großer Verbrecher, ein anderes, er
sei ein Visionär und Heilsbringer.
Mit dem Zeitalter der Aufklärung ging der Niedergang der Astrologie
einher. Jetzt regierte allein die Ratio, der Verstand. Da hatten Wunder,
Mystik, Symbolik und Analogie nichts mehr zu suchen.
Du selbst bist seit vielen
Jahren als Astrologin tätig. Was kann uns die Astrologie heute noch
geben? Ist das nicht alles Humbug?
Zu heutigen Zeiten gilt nur das etwas, was wir sehen, beweisen und
messen können. Wir betrachten Vieles unter messbaren und auch
ökonomischen Gesichtspunkten. Die Menschen schauen immer weniger auf die
anderen Ebenen. Aber genau das brauchen wir. Menschen brauchen Märchen;
Menschen brauchen Mystik; Menschen brauchen Wunder, an die sie glauben
können. Und in diesem Feld wirkt die Astrologie. Und wenn wir sie als
das annehmen, nicht als absolutes Instrument, sondern als weiches
Instrument, das die Potenziale von uns Menschen mit (ihren) unseren
Möglichkeiten zeigt, dann hat die Astrologie gemeinsam mit Kunst,
Kultur, Philosophie und auch esoterischen Disziplinen ganz viel in der
heutigen Welt zu suchen.
Vielen Dank für das freundliche Gespräch!
Wer nach Lektüre des Interviews die mystischen Rituale des Mittelalters
wiederaufleben lassen möchte, der ist herzlich eingeladen, im
Mittelaltershop zu stöbern. Auf dem Ritualplatz im Shop – Link siehe
hier:
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Annegret Becker-Baumann
ist seit 20 Jahren als Astrologin tätig, seit knapp zehn Jahren
unterhält sie eine eigene Praxis. Sie gilt als eine der führenden
Astrologinnen innerhalb des Deutschen Astrologen-Verbandes (DAV),
insbesondere auf dem Gebiet der „Geschichte der Astrologie“. Sie bietet
eine astrologische Ausbildung an und ist außerdem Mitglied im
Prüfungsausschuss des DAV.
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